DRI-Theorie

Vor vielen Jahren war ich mit Freunden auf dem Weg zurück nach Wien. Als wir in die Stadt hineinfuhren sagte ich: „Jetzt fahren wir wieder in den Ameisenhaufen.“ Dieses subjektive Empfinden ließ mich nie los, erklären konnte ich es mir trotzdem sehr lange Zeit nicht. Bis jetzt.

Ich werde jetzt einmal einen Versuch starten:

Nummero uno: Wenn viele kleine Teile zusammenkommen, dann entsteht oft ein Größeres. Das Neue hat nicht nur die Eigenschaften der vielen Teile, sondern Zusätzliche, die aus der Zusammenkunft entstehen.

Nummero due: Wir Menschen besitzen ein Gehirn, welches Regionen innehat, die älter sind, als der moderne Homo sapiens. Diese primitiven Gehirnregionen hinterließen instinktoide Impulse, die ihren Ursprung in der Tierwelt haben.

Nummero tre: Wir Menschen sind also auch Herdentiere. Wir sind soziale Wesen, die sich zu Gruppen zusammenfinden wollen.

Nummero quattro: Mehrere Menschen werden eine Gruppe. Diese Gruppe hat neue Eigenschaften. Sie hat eine eigene Dynamik, einen eigenen Geist, so könnte man sagen.

Nummero cinque: Der „Gruppengeist“ hat Einfluss auf jedes einzelne Individuum. Nicht die einzelnen Individuen definieren den Gruppengeist, sondern er beeinflusst sie.

Nummero sei: Diese natürliche Gruppendynamik ermöglicht schnell Entscheidungen zu treffen und zu handeln, als wäre man eine einzige Person. Wie ein Fischschwarm, jeder richtet sich nach dem Nachbarn aus und somit gleitet eine riesige Gruppe von Fischen, wie ein einziger Organismus im Wasser dahin.

Nummero sette: Dieser Gruppengeist erzeugt einen gewissen Druck auf jeden Einzelnen. Wie eine Menschenpyramide. Wenn immer mehr Leute auf die Pyramide steigen, dann steigt die Last, die der Unterste zu tragen hat. (siehe Konformitätsexperiment von Asch)

Nummero otto: Dieser Druck drängt die Individuen dazu die selbe Richtung einzuschlagen, wie die anderen.

Nummero nove: Dieses Anpassungsverhalten ist eine Überlebensstrategie. Eine Gruppe, die gleich agiert, kann sich besser schützen gegen Feinde. Einzelne Individuen wären dagegen hilflos ausgeliefert.

Nummero dieci: Diese kollektive Anpassung erschafft eine homogene Masse, eine Norm.

Nummero undici: Umso größer die Gruppe ist, umso größer ist dieser Druck auch den Einzelnen.

Nummero dodici: Wir Menschen sind aber nicht ausgelegt für riesige Gruppen, sondern für überschaubare Familiensysteme. In denen Zugehörigkeits- und Autonomiegefühle Platz haben.

Nummero tredici: Ein Mensch braucht eine Umwelt in der er sich aufgenommen und richtig fühlt. Eine Umwelt, die ihm seine Wahrnehmung spiegelt. Eine Umwelt, in der er sich gesehen fühlt. Eine Umwelt, die ihm hilft er selbst zu sein.

Nummero quattordici: Umso größer die Wahrnehmungsdiskrepanz zwischen dem Individuum und der Gruppe, umso ungesünder werden die Auswirkungen sein. Scheiternde Anpassungsversuche kosten enorme Ressourcen. (siehe Devianz-Erschöpfung, Kerr und Cohn)

Nummero quindici: Weder der Gruppengeist kann abgeschalten werden, noch kann sich das Individuum durch weitere Anpassungsversuche endgültig eingliedern.

Nummero sedici: Ein weiteres Verhalten tritt in Kraft. Aggression gegen das Fremde bzw. gegen das Schwächere. Die Stärke der Gruppe liegt in ihrer Übereinstimmung. Dadurch entsteht eine ungeheuere Schlagkraft. Fremdes oder Andersartiges würde diese Kraft schwächen. Somit wird sie aus der Gruppe ausgeschlossen.

Wenn wir also in einem riesigen Menschenverband leben, dann leben wir wie Ameisen. Wir werden uns dem Gruppengeist anpassen, weil wir einen Druck verspüren. Umso größer diese Gruppe ist, umso größer wird dieser Druck. Wir werden das Gefühl zu uns selbst verlieren, uns einsam unter vielen Menschen fühlen. Und wenn wir aus verschiedenen Gründen eine Andersartigkeit anhaften haben, die wir nicht abstreifen können, dann werden wir von Vornherein ausgeschlossen aus der Gruppe.

Viele der „Zivilisationskrankheiten“ sind tatsächlich Krankheiten, die aus der Zivilisation entstanden sind. Aber nicht hauptsächlich aus dem technischen Fortschritt, sondern aus dem sozialen Umbruch. Aus der Tatsache heraus, dass wir einen Schwarm gebildet haben, der nicht mehr jedem gerecht werden kann. Der den ureigenen Bedürfnissen des Menschen nicht mehr gerecht werden kann.

Wir können uns weiterhin bemühen trotzdem zu funktionieren, in diesem System, aber wir werden uns damit nie selbst gerecht werden. Wir werden dann immer ein Leben der anderen führen. Eine Ameise im Ameisenhaufen sein.

Jegliche Selbstoptimierung und Selbstinszenierung ist nur ein kläglicher Versuch autonom zu werden. Ein eigenständiger Mensch zu werden, der trotzdem Teil einer Gruppe ist.

Wenn wir Teil einer Sekte sind, und wir es vielleicht gar nicht wissen, dann würde es das Phänomen erklären, dass immer mehr Menschen unter Dingen leiden, die sie nicht eindeutig benennen können.

Es würde erklären, warum immer mehr Menschen erschöpft sind. Denn wenn man einen Druck verspürt, dem man nicht nachgeben kann, dann kostet das enorm viel Energie diesen auszuhalten.

All jene, die sich leicht anpassen. All jene, die sich leicht in der Norm wiederfinden. All jene, denen der Schwarm Sicherheit gibt. Denen wird es (augenscheinlich) ziemlich gut gehen.

Für alle anderen gilt der Spruch:

Die Hölle, das sind die anderen.

Jean-Paul Sartre