Buch: Das Unerträgliche annehmen – Dr. Joanne Cacciatore
Das Unerträgliche annehmen ist eine überzeugende Kritik an unserer „mitgefühlsarmen“, glückssüchtigen Gesellschaft, die eine pathologische Beziehung zu Gefühlen im Allgemeinen und zur Trauer im Besonderen hervorruft. Dr. Cacciatore verdeutlicht, welchen Preis es hat, Trauer zu pathologisieren und die Gefühlswelt von Menschen, die einen schrecklichen Verlust erlitten haben, zu verleugnen und zu entwerten. Sie zeigt außerdem auf, wie sehr Trauernde dadurch an sich selbst zweifeln und sich entfremdet und allein fühlen, was eine Heilung von vornherein ausschließt.
Vorwort von Jeffrey B. Rubin
Wenn wir zutiefst lieben, trauern wir zutiefst; außergewöhnliche Trauer ist ein Ausdruck außergewöhnlicher Liebe. (…)
Mit dem Tod eines geliebten Menschen verschwindet auch die Person , die wir einst waren, und wir werden zu einer irgendwie abweichenden Form unserer selbst, die auf eine fremde Art und Weise in der Welt ist. Wir wollten das nicht, es war so nicht geplant, so sollte es nicht sein – und doch ist es jetzt so, auch wenn unser Herz immer wieder wispert: „Nein, nein, nein.“ (…)
Bei traumatischer Trauer jedoch brauchen wir für wesentlich längere Zeit mehr Unterstützung, als viele Menschen wissen und zulassen. Traumatische Trauer ist ein anhaltender Zustand des Ungleichgewichts, an den sich der Trauernde nicht anpassen kann. Verstärkt wird das noch dadurch, dass in einer Gesellschaft, die Angst vor Leid und Schmerz hat, die den authentischen Ausdruck von Gefühlen pathologisiert und der es an unterstützenden Strukturen und Ritualen zum Gedenken an ihre Toten mangelt, keine Gewöhnung und Anpassung an Bedrohungen stattfinden kann. Diese Gesellschaft treibt Trauernde dazu, ihre Trauerreaktionen negativ zu beurteilen und falsch zu bewerten. Dann sehen wir bei uns mangelhafte Anpassungsfähigkeit („Inzwischen sollte es mir doch bessergehen“), persönliche Unzulänglichkeit („Was stimmt nicht mit mir?“) oder gar psychische Erkrankungen („Ich habe schwere Depressionen“).
Solche irrigen Glaubenssätze über Trauer führen dazu, dass wir verdrängen, uns ablenken und natürliche Trauerreaktionen vermeiden – was uns am Ende nur noch mehr Kummer und Leid beschert. (…)
War das alles, was es für mich gab? Wenn ja, war ich mir nicht sicher, ob ich das überleben würde. (…)
Die einzige Alternative zur Ablenkung ist es, bei der Trauer zu sein – einen schmerzlichen, furchterregenden Augenblick nach dem anderen. (….)
Jeder Tag scheint immer mehr Erinnerungen zu bringen, die auf mich einstürmen. (…) Mein Geist ist gebrochen, mein Herz fühlt sich zerschmettert an, dieser Moment ist unerträglich. (….)
Selbstfürsorge ist für Trauernde unerlässlich.
Sie ist etwas, das nicht verhandelbar ist. (…)
Nach fast drei Jahren ihrer Trauerreise hatte JoAnn das Gefühl, immer noch im „Überlebensmodus“ zu sein. (…)
Ich war traurig und wütend auf die Menschen, die sie im Stich gelassen hatten – und auf die Menschen, die Tag für Tag überall auf der Welt Kinder, Tiere, Ältere und Schwache im Stich lassen, die Mitgefühl und Freundlichkeit brauchen, aber diese Liebe nicht bekommen. (….)
Ihre schon vorhandene traumatische Trauer wurde dadurch noch mit einer solchen Verzweiflung aufgeladen, dass sie sich in der Welt unsicher fühlte und sich allmählich in einen schützenden Kokon zurückzog. (…)
Ich weiß, dass Kontrolle eine Illusion ist. (….)
Und ich weiß um das Geheimnis, dass das Leben weitergeht, aber nie mehr dasselbe ist.
Wenn ich mir meiner Leidensanfälligkeit bewusst bleibe, nehme ich das ständige Hintergrundrauschen der Angst, das Grollen unstillbarer Furcht wahr und erinnere mich daran, dass es normal ist, Angst vor einem weiteren Verlust zu haben und sich irgendeine Art von Garantie oder Schutz vor weiteren Traumata und noch mehr Trauer zu wünschen.
Und ich weiß, dass das unerreichbar ist. (…)
Das Einzige, wofür es im Leben eine flüchtige Garantie gibt, ist dieser Augenblick – das Hier und Jetzt. Das ist alles, was wir haben; alles, was wir jemals haben.
Es ist befreiend und beängstigend zugleich.
Dr. Joanne Cacciatore