Vergessen

Ich habe es nicht vergessen! Wie könnte ich nur? Ich werde es nicht vergessen!

Und doch ist es mir entglitten, durch meine Hände entwischt. Ein haltloser Griff in die Leere. Ich habe es nicht gewollt, es ist einfach passiert. Wie so vieles, einfach passiert. Es war nicht meine Schuld, es war niemandes Schuld. Es hat einfach keinen Halt gefunden. Keine Leinwand auf der es sich abzeichnen konnte. Keinen Raum in dem es sich ausbreiten konnte.

Es tut mir leid, auch wenn es nicht notwendig ist, auch wenn es keinen Unterschied macht. Und doch schmerzt es mich, dass es so gekommen ist. Wäre es nur anders gewesen, wäre nur alles einfach anders gewesen.

Es gab keinen Schutz davor, keinen Mantel in den ich mich hüllen konnte, kein Auffangnetz. Es war ein Stolpern, ein plötzliches Fallen.

Die Zeit blieb stehen, aber die ruhige Gewissheit stellte sich nicht ein. Angehalten, und doch rasten die Bilder vorbei. Auf Licht folgte Dunkelheit, auf Dunkelheit Stille, auf Stille ein Schwebezustand. Auf den Schwebezustand Schmerz. Auf den Schmerz folgte Klarheit. Auf die Klarheit Unruhe. Auf die Unruhe Angst. Nach der Angst kam Hilflosigkeit. Nach der Hilflosigkeit kam Starre. Die Starre wurde zu Wut. Die Wut zu Ausdruck. Der Ausdruck zu Weite. Die Weite zu Chaos. Das Chaos wurde zu Angst. Die Angst zu Trauer. Die Trauer zu Einsicht. Die Einsicht zu Ruhe. Die Ruhe zu Liebe. Die Liebe zu Hoffnung. Die Hoffnung zu Stärke. Die Stärke zu Energie. Die Energie zu Lust. Die Lust wurde zu Angst. Die Angst zu Scham. Die Scham wurde zu Neugierde. Die Neugierde zu Möglichkeiten. Die Möglichkeiten wurden zu Wegen. Die Wege wurden Boden. Der Boden wurde Heimat.

Es hat mir keiner gesagt, keiner erklärt. Vielleicht hat es keiner gewusst.

Alles verdreht und wirr. Oben ist unten, unten ist oben.

Eine ganze Welt in klirrenden Fragmenten. Ein ganzes Universum, in vibrierender Frequenz in Unordnung gebracht.

Ich habe es nicht vergessen, wie könnte ich nur. Und doch ist es passiert.

In einem Moment mit voller Wucht in tausend Teile zerbrochen. Hinweggesprengt die Ordnung und Form. Der Sinn seiner Existenz plötzlich weggetragen.

Ich habe mich bemüht, es aufzuglauben, zusammenzusetzen. In geduldiger Kleinstarbeit habe ich jeden Teil genau begutachtet, gereinigt und versucht an seinen bestimmten Platz wieder einzufügen. Ich habe mich so bemüht.

Um zu erfahren, dass es nicht meine Schuld war. Dass alles Liegende seinen Platz hat. Seine ganz eigene Ordnung.

Es hat mir keiner gesagt, es hat mir keiner erklärt. Vielleicht wusste es keiner.

Alles Zerbrochene, sah ich, fühlte ich, wurde Teil von mir. Und mir ist entglitten, was Ganz war.

Ich habe es nicht vergessen, wie könnte ich nur. Ich werde es nie vergessen.

Es ist einfach hinweg gehuscht, um die Ecke verschwunden. Einfach verpufft, wie eine Seifenblase. Einfach verflogen, wie eine rasende Wolke.

Meine Reflexe erstarrt, haben nicht greifen können, was sich mir entzog. Hätte ich es nur gepackt, hätte ich es nur in Ketten gelegt. Hätte ich es nur in einen hohen Turm gesperrt. Hätte ich es nur fest umarmt und nicht mehr losgelassen.

Es hat mir keiner gesagt, keiner erklärt. Vielleicht hat es keiner gewusst.

Vielleicht kann es keiner wissen.

Oder nur die selbst vergessen haben.

Wir wollten alle nicht vergessen, wir haben es nicht. Wir werden es nicht!

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