Vergeben

In mir der Groll über erlebte Ungerechtigkeiten. Eine Welle der Hilflosigkeit. Ein Zorn, das so ertragen haben zu müssen. Mein Ich, sich aufbäumend, weil es meint das nicht verdient zu haben. Weil es denkt, dass es doch anders hätte sein können.

Ist diese Wut berechtigt?

Sie ist auf jeden Fall notwendig. Wir brauchen unsere Gefühle, wir brauchen unseren Selbstschutz. Und doch können sie uns behindern. Sie können zu einem inneren Gefängnis werden.

Habe ich nicht viel Zeit damit verbracht zu verzeihen, und habe ich nicht viel Zeit damit verbracht, nicht zu verzeihen? Beides so unvollständig, wie Messer und Gabel für sich alleine.

Ich spüre, wie es mir nicht gut tut nur eines von beiden zu praktizieren. Weder nur nachzugeben, noch nur auf mein Recht zu pochen. Aber wie findet man da die richtige Balance? Und was macht es mit dem eigenen Selbst, wenn Grenzen übertreten werden? Haben wir überhaupt ein Selbst, wenn wir alle Grenzen aufgeben?

Müssen wir alles verzeihen, um im Frieden leben zu können?

Jede lieblose Handlung verletzt uns. Wir sehen es als einen Beweis an, dass wir nicht liebenswert sind. Denn wären wir es, würden wir doch nicht so behandelt werden, oder?

Wir beginnen misstrauisch zu werden, wir beginnen uns zu verschließen. Wir ziehen Mauern um uns, stellen Türme auf und verstecken uns hinter Masken. Soll doch niemand mehr so eine Wirkung auf uns haben können. Soll doch alles von uns fern bleiben.

Und doch sagt das verletzende Handeln weniger über uns aus, als über den anderen. Wir reagieren aber auf die Lieblosigkeit wieder mit Lieblosigkeit, uns selbst gegenüber. Wir betrachten uns selbst mit Ablehnung.

Auch wenn ich das weiß fällt es mir schwer es anders zu bewerten. Auch wenn ich weiß, dass dieses Verhalten aus Angst entstand. Auch wenn ich weiß, dass es Ausdruck der Wunde im anderen ist. 

Und wie sieht es mit mir selbst aus? Habe ich mich selbst immer liebevoll verhalten?

Definitiv nein.

Habe ich nicht selbst immer erwartet, dass andere sich genauso bemühen, auch wenn sie es nicht konnten? Wieviel Verständnis konnte ich da aufbringen?

Und auf der anderen Seite haben wir auch das Recht uns abzugrenzen und zu entscheiden was gut für uns ist. Wir haben das Recht zu sagen: „Hier hin und nicht weiter. So möchte ich nicht behandelt werden!“

Beziehungen haben vielleicht keine Bringschuld, dass sie einen bedingungslose Liebe liefern müssten. Aber sie sollten das Potenzial haben, dass beide Beteiligten von einander lernen können. Sie sollten die Möglichkeit sein, dass wir unsere Wunden erkennen und heilen können. 

Das ist aber nicht immer möglich, und oft bleibt es nur bei einer Bekanntschaft, losen Begegnung oder einer unbefriedigten Beziehung. Zwar wurden wir berührt und auch mit unseren inneren Aufgaben konfrontiert, aber vollständig auflösen konnten wir sie nicht. Was also tun mit diesen Schatten, die uns weiterhin begleiten? Was machen wir nun, mit den nicht ausgesprochenen Worten, mit den unangenehmen Gefühlen, mit der Unruhe, mit der Kränkung, mit der Sehnsucht auf Auflösung?

Das innere Drama wird sich immer und immer wiederholen. Einfach weil es chaotisch ist, es wird unserer inneren, psychischen Entropie beigefügt. Und der große, schwarze Strudel wächst unbewusst. Und in Zeiten der Ruhe werden wir in diesen Sog gezogen, bahnt sich das Chaos den Weg hinauf und äußert sich in destruktiven Gedanken. Vergangenheit wird zur Gegenwart. 

Wir versuchen Ordnung darin zu finden, in Schuldzuweisung. Irgendjemand muss ja Schuld haben. Hat der andere sich falsch verhalten, habe ich mich falsch verhalten?

Aber was für eine Ordnung soll da eigentlich rauskommen? Der Strudel vergrößert sich nur, weil jede negative Bewertung auf uns zurückfällt. Sie feuert die innere Unzulänglichkeit nur an. Denn auch wenn wir es dem anderen zuschreiben, lehnen wir uns damit selbst ab. Unser Blick auf den anderen wird zu uns zurückgeworfen. 

Das geht natürlich auch umgekehrt. Können wir die Perspektive einnehmen, dass der andere nicht aus Böswilligkeit heraus so agiert hat, dann können wir nicht nur den anderen wohlwollender betrachten, wir können uns auch selbst liebevoller betrachten.

Zwei Sachen daran sind aber besonders knifflig. Einerseits müssen wir dafür eine demütige Position einnehmen. Auf der anderen Seite dürfen wir es nicht deswegen tun, weil wir geliebt werden wollen, sondern weil wir selbst lieben.

Vergeben wir, weil wir den anderen nicht verlieren wollen, oder der andere uns sonst nicht mag, dann werden wir das Drama weiterspinnen.

Das ist eigentlich der größte Unterschied und auch am Schwersten zu verstehen bzw. zu praktizieren. Es bedarf eines sehr radikalen Perspektivwechsels. Die gegenseitige negative Betrachtung muss mit einem Wisch fortgewischt werden und stattdessen müsste man einen Neubeginn starten. Ein Bild kreieren, wo beide keine Feinde sind, sondern Freunde, die sich nie was Böses antuen wollten, sondern eigentlich gemeinsam das Leben bestreiten wollen.

Ich stelle mir da gerade ein trotziges Teufelchen vor, welches ich knuddel und küsse. Ich gehe einfach davon aus, dass sein Verhalten nur aus seiner Unbeholfenheit entstanden ist und eigentlich Ausdruck dafür war, dass er bei mir sein möchte. Dass seine negative Aufmerksamkeit mir gegenüber nur aus seiner Angst heraus entstanden ist, und mit mir gar nichts zu tun hat.

Sein Verhalten war vielleicht wirklich nicht liebevoll und vielleicht sogar ziemlich gemein, aber es bedeutet auf keinen Fall, dass ich weniger liebenswert bin. Also kann ich trotzdem einfach liebevoll sein, wenn ich Lust darauf habe. Und auch wenn es nur in meiner Fantasie ist. Ich kann damit beginnen, mich selbst so anzusehen, wie ich gesehen werden will. Ich kann so zu anderen sein, wie ich selbst behandelt werden will.

Ich kann zwar niemanden ändern, aber ich kann versuchen in mir Frieden zu finden. Vielleicht hilft ja die absurde Taktik dabei, die kleinen Verhaltensmonster zu knuddeln ;).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.